Zeit meines Lebens habe ich es nicht geschafft, mir regelmäßig sportliche Übertragungen anzusehen – mal abgesehen von den 3 Wochen Fußball-EM und -WM. Die mochte ich schon immer, da alle Schanigärten (auf Deutsch: Gastgärten) gut gefüllt waren und es eine fantastische Beschäftigung ist, seinen österreichischen Freunden mit Jubel, sobald die deutschen Spieler etwas halbwegs vernünftiges Machen, auf die Nerven zu gehen. Das sollte dieses Jahr, wie allgemein bekannt, nichts werden. Glücklicherweise habe ich aber inzwischen ein gewisses Interesse für die TV-Übertragungen vom Profi-Radsport entwickelt. Beim Treffen mit den Eltern mal unauffällig das Handy zücken, um einen kurzen Blick in den Live-Stream zu erhaschen? Im Büro um Punkt 13:00 in Ermangelung des Eurosport Players den Live-Ticker auf Sportschau in einem eigenen Tab aktivieren? Ein Fantasy-Tour-de-France-Team erstellen und täglich umpositionieren, um die meisten Punkte durch die gefahrenen Kilometer der „echten“ Profis zu generieren? Eventuell habe ich all das in den letzten Wochen getan. Theoretisch kann man also nicht sagen, ich wusste nicht, worauf ich mich einlasse.

Praktisch fragte mich Daniel von der RoadBIKE Anfang Februar, ob ich es mir denn nach etwas mehr als einem halben Jahr auf dem Rennrad zutraue, eine Etappe der Tour de France zu fahren. Ich: „Natürlich! Meine erste Ausfahrt war direkt ein Grand Fondo und ich habe auch schon ein paar Mal richtig Höhenmeter gemacht! Über 1000!“ Kurzes Schweigen am Ende der Leitung. Nachher ist man immer klüger.

Nachdem ich in Bielefeld mein rotes Canyon Endurace CF SLX, oder auch: den Ferarri unter den Rennrädern, sowie einen ausgeklügelten Trainingsplan bekam, war ich mir sicher, dass das eine großartige Idee war. Auch als ich in Kaltern bei unserem Trainingscamp bei Abfahrten immer hinter den anderen herlutschte, kam mir nicht ein Gedanke, dass eine Berg-Etappe der Tour de France eventuell eine andere Hausnummer wäre. Waren ja nur 169km und nicht der Ötzi, wie bei den Anderen in den Jahren zuvor.

 

Reisen mit Radkoffer

Anreise

Freitag nachmittag stieg ich in den Flieger nach Genf und dann ging es mit dem Shuttle weiter in unser Team-Lodge in der Nähe von La Clusazs. Eine Millionen Kalorien verbrannten allerdings mein Freund und ich bereits am Vortag, als wir versuchten, mein eher breit gebautes Rad (Endurance-Geometrie, wie ihr ja wisst) mit Scheibenbremsen in irgendeinen der 2 neu angeschafften Radkoffer zu bekommen. Aero-Vorbau abmontieren. Schaltauge abmontieren. Sattelstütze raus. Räder abmontieren und die leeren Bremsbeläge mit Pappe ausstopfen. Alles festzurren. Koffer schließen… Koffer lässt sich nicht schließen. Andrer Koffer, gleiches Spiel. Auf einen Carbon-Rahmen sollte man sich ja auch eher nicht so drauf setzen wie auf seinen übervollen Koffer für eine Woche Strandurlaub. Carbon-Laufräder versucht, ineinander zu stecken. Das konnte nicht gesund sein für das Material, außerdem man kennt ja auch die Videos, wie Flughafen-Mitarbeiter mit diesen quasi jonglieren. Also: das vordere Laufrad musste zuhause bleiben, Lude, unser Teamchef, hatte noch eins für mich auf Lager.

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Als eine der letzten traf ich in unserer Hütte für die nächsten Tage ein, hatten sich bereits die anderen Alpecinis vor dem Fernseher versammelt, um WM zu schauen. Wir freuten uns, dass wir (fast) alle wieder zusammen waren und bekamen von 2 Köchen ein hervorragendes, Carb-lastiges Abendmahl kredenzt. Eigene Köche! Wie geil ist das denn! Aber: generell war Hütte, was Lodge (scheinbar) übersetzt bedeutet, eine maßlose Untertreibung. Eine riesige Terrasse mit Ausblick auf die französischen Alpen, umgeben von kleinen Schaf- und Ziegenherden, von denen man allerdings meist nur die Glocken hörte, ein Indoor-Pool, eine kleine Zapfanlage für das Bier nach dem Rennen und natürlich: ein Mechanik-Raum mit einer Menge an Rädern, alle im Preissegment eines guten Kleinwagens. Unser Team-Mechaniker und ich bauten mein Rad zusammen. Endlich wurde mein „kleiner“ Spacer-Turm etwas gekürzt! Und: Meine Kassette und meine Kette waren die Saubersten! Ich hatte alles fein säuberlich geputzt und natürlich nicht eingeölt, bevor ich es verpackt habe. Auf Kettenöl im Koffer konnte ich nämlich gut verzichten. Allerdings hatte ich auch jegliche Öl-Reste zwischen den Gliedern entfernt, sodass sich die Kette anhörte wie eine Kaffeemaschine. Na toll, da macht man die ganze Fleißarbeit und gedankt wird es einem durch Witze. „SO bist du gefahren?!“ Natürlich nicht. Auch egal. Neues Öl drauf und das Rad war fahrbereit.

Samstag

Samstag lief alles nach Plan: meine Kette machte keinen einzigen Mucks, ich merkte sofort, dass ich mich trotz der ungewohnten Umgebung auf meinem Rad wie zuhause fühlte und mir keine Sorgen machen müsste. Auch wenn ich nicht ganz so schnell abfahre wie die anderen, konnte ich am Berg und in der Ebene locker mit mithalten – das war in Kaltern noch nicht so. Die nicht enden wollenden Grundlagen-Einheiten, das abspulen von Intervallen entlang der Donau und das stupide wiederholte Auf- und Abfahren, teilweise 4 Mal hintereinander, ein und desselben Hausbergs bei Wien waren also nicht für den Hugo gewesen. Na immerhin.

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Leider kam es dann zu einem Sturz. Maddie, meine Team-Kollegin, auch erst seit weniger als einem Jahr, dafür aber wahnsinnig geschickt, auf dem Rennrad unterwegs, erwischte es übel auf einer Abfahrt. Ach du Schande… Die ist doch deutlich wiffer im Abfahren als ich! Und wenn ich morgen 4000 Höhenmeter rauf muss, muss ich doch zumindest eine ähnliche Anzahl an Höhenmetern wieder abfahren! Nooo! Das Kopfkino setzte ein… Doch für mich ging es erstmal weiter nach Annecy: in der L’Étape-Village sammelten wir unsere Startnummern, hangen auffällig lässig beim Katusha-Stand rum und genossen das schöne Städtchen. Der Lac d’Annecy war wirklich unfassbar schön und beinahe kitschig. Oder sagen wir es so: wenn jetzt 2 Delfine aus dem Wasser gesprungen wären und sich geküsst hätten, wäre ich nicht überrascht gewesen. Dann noch mal Carb-Loading mit Paella in der Lodge, alle Sachen penibel sortiert rauslegen, Briefing von Lude und Flo, unserem Trainer und ab in die Heia. Um 22 war Licht aus. 

L’Étape du Tour Village

 

 

Raceday

Mein Wecker klingelte nämlich um 3 Uhr morgens. Ich wachte vollkommen gerädert auf. Eingeschlafen bin ich erst um kurz nach halb 1. Wer kommt auf so eine bescheuerte Idee, das Rennen um 6:45 zu starten?! (Ach Nora, du naive Sau. Damit du deinen Allerwertesten noch vor Einbruch der Dunkelheit ins Ziel bekommst)
Es ging dann alles recht zackig: Zähne putzen, Sonnencreme, rein in die Radsachen, das gewohnte Pre-Race-Breakfast, gefühlt 7 Toilettenbesuche, rein in den Shuttle und auf nach Annecy.

Unsere Räder standen schon top in Schuss bereit:
Schläuche und Mäntel waren top in Schuss
Reifendruck wurde für das Streckenprofil optimal adjustert (4,5bar)
Batterien in den Schalthebeln wurden gecheckt und getauscht (Ich glaube, in der Nacht davor habe ich geträumt, dass genau die auf einem der Anstiege leer gehen. Und die kannst du nicht mal so eben tauschen wie die Akkus an der SRAM red eTap)
In unserer Satteltasche war ein Ersatzschlauch, Reifenheber und ein Multi-Tool und in meinen Rückentaschen waren 4 Cola-Riegel, um die 18 Gels und mein voll geladener Wahoo. LEDs und Töne hatte ich bereits am Vorabend deaktiviert, just in case, man möchte ja nicht auf offener Strecke ohne Rad-Computer dastehen, oder noch schlimmer, die Fahrt nicht auf Strava hochladen können. Dann hätte ich das ganze nochmal fahren müssen.

Mit dem Shuttle ging es dann zum Parkplatz der Uni, von wo aus wir uns in den Startbereich einrollten. Auf dem Weg dahin vertrieb ich mir meine Nervosität, indem ich mit dem freundlichen französischen Fahrer des anderen Shuttles telefonierte und versuchte, ihn mit den letzten verbliebenen Fetzen meines Schulfranzösisch zu unserer Unterkunft zu manövrieren, damit auch der 2. Teil der Gruppe eingesammelt werden konnte. Englisch sprechen die Franzosen bekannter Weise seeehr ungern und ich hatte leider einmal zu oft erwähnt, „dass ich ja sogar französisch als Unterrichtssprache hatte!“. Tja, das hatte ich nun davon. Von 5 Jahren französisch und 2 Sprachreisen war kaum mehr übrig als ein Mischmasch aus Denglisch, Italienisch, etwas französisch und – ach du scheiße – war das grade spanisch?

Weniger kuschelig wurde es dann im Startbereich bei 14 Grad auf den Startschuss zu warten, aber wir waren dank dem Alpecin-Orga-Team klar im Vorteil: unsere Ärmlinge und Westen flogen nach und nach über den Zaun, wo sie für uns ins Ziel transportiert wurden. Angesagt waren tagsüber Temperaturen bis 33 Grad. Hach, schon schön, nicht zu frieren und trotzdem nicht das unnötige Gewicht in den Trikot-Taschen mitschleppen zu müssen, wenn die Sonne erstmal richtig aufgegangen war! Gegen den Fahrtwind schob ich mir eine Doppelseite der Ötzi-Ergebnisse 2017 zwischen Trikot und Baselayer. Genial. Die konnte man dann einfach wegschmeißen, wenn die erste Abfahrt überstanden ist. Wie die Profis (früher)!

 

Los ging es um den Lac d’Annecy – ich kurbelte gemütlich dahin und plauderte mit unserem Fotografen, der witzigerweise auch aus Wien kam. Schließlich hatte uns Flo eingebläut, uns nicht gleich zu Beginn auszupowern. Immer wieder fand ich Gruppen, deren Tempo für mich passte, sodass ich schön Grundlage bis zum ersten kleinen Anstieg nach ca. 30 km fuhr. Im Streckenprofil sah der Col de Bluffy, ein Berg der Kategorie 4, neben den beeindruckenden Pässen, die auf uns warteten, eher wie eine Betonblase aus – aber wer sich hier überanstrengte, sollte spätestens auf dem übernächsten Anstieg zum Plateau des Glières Probleme bekommen. Also: 1. Gel und rüber da.

 

Col de la Croix Fry / 11 km mit 7% Avg.

Bei der ersten Labestation legte ich einen Zwischenstop ein und füllte meine Flaschen auf. Vor mir lag der Col de la Croix Fry, Berg der Kategorie 1 – 11km mit 7% Steigung im Schnitt. Von allen Anstiegen, die noch auf mich zukommen sollten, bestimmt der humanste. Aber länger als jeder andere Pass, den ich bislang gefahren bin! Noch einmal tief durchatmen, rauf auf den Sattel, kräftig in die Pedale getreten und los ging es – und der Berg war wunderschön! In den kleinen Bergdörfchen wie Manigod waren bereits Zuschauer, die uns bei ihrem Morgen-Kaffee anfeuerten. Die Straße war in einem fantastischen Zustand, ich fuhr gemütlich, schließlich wollte ich ja auch ein bisschen das Panorama genießen, und um mich rum begannen noch alle Startnummern mit 2, 3 oder 4. Ich fand die Motivations-Schilder am Streckenrand lustig und um mich herum waren auch nur gut gelaunte Fahrer. Hin und wieder hörte man mal ein Keuchen, nun redete aber keiner mehr miteinander.

Montée du plateau des Glières / 6 km mit 11,2% Avg.

Berg Numero Uno war schneller geschafft, als ich mir in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte, und oben traf ich sogar meine Teamkollegen Tim, Arne, Les und Rens! Flaschen voll, 1. Riegel futtern, und nach einer gemütlichen Abfahrt durch La Clusazs stand mir der zweite Pass bevor, vor dem ich den größten Respekt hatte: Der Anstieg zum Plateau des Glières. 6 km mit 11,2% Steigung – im Durchschnitt! Ein Anstieg der Kategorie HC. Ich nestelte die durchgeschwitzten Zeitungspapier-Lagen aus meinem Trikot und dann ging es auch schon los: Die Straße war hier eher schmal und im 3 Minuten Takt fuhren auch noch Motorräder des Veranstalters, der Polizei und der Fotografen an uns vorbei. Meine Beine begannen nach 2 km das erste Mal zu zwicken. Der Ansteig erinnerte mich an meinen Hausberg, Hadersfeld, dessen erste paar Meter recht steil waren. Hier ging es allerdings nicht um ein paar Meter, sondern um 6 Kilometer! Ich fragte mich durchgehend, wer auf die hirnrissige Idee gekommen war, hier eine Straße hinzumachen? Am Straßenrand schoben die Ersten. Kurz darauf sollte ich auch schieben: direkt vor mir stürzten zwei Männer, links gab es nur den ungeschützten, steilen Bergabhang, rechts hatte ich keinen Platz, vorbei zu kommen, also klinkte ich aus und blieb stehen. Ich war auf der linken Seite, anfahren tut man für gewöhnlich rechts, um andere Teilnehmer nicht zu gefährden. Mein Wahoo zeigte eine Steigung von 14% an, weit und breit gab es kein Loch, um auf die rechte Seite zu kommen, also schob ich ein Stückchen, um einen Platz zu finden, der nicht zu steil zum Anfahren war – entlang der schmalen Kante, die die Straße vom Abhang trennte. Langsam stieg in mir ein ungutes Gefühl auf, wie ich es bislang noch nicht kannte. Kalte, blanke Panik. Was, wenn sich die nächsten Kilometer kein Platz zum Anfahren finden ließ? Ich abrutschte und in die Tiefe fiel? Oder ich beim Anfahren stürzte? Meine Hände wurden zittrig und ich spürte, wie mir das Wasser in die Augen stieg. In meinem Kopf ließ sich kein Gedanke mehr so recht ordnen. Niemand redete hier miteinander, auch nicht mit denen, die bereits am Straßenrand saßen und lagen. Das einzige, was ich hörte war ein durchgehendes Keuchen und hin und wieder eine schlecht geölte Kette.
Da blieb auf einmal ein kleines Loch und ich konnte auf eine Ausbuchtung der rechten Straßenseite wechseln. Dort standen und lagen einige andere, die ausgeklinkt hatten, und fuhren nach und nach an. Einer der Wartenden sah, dass es mir nicht gut ging. Er schnappte mein Fahrrad, sagte mir auf französisch, dass ich mich kurz hinsetzen solle, um etwas Wasser zu trinken. Und dann machte er einen Witz – keinen guten, nichts besonderes, aber die Situation war so irre, es brachte mich einfach auf andere Gedanken und ich musste Grinsen. Sofort merkte ich, wie mein Körper wieder Glückshormone ausschüttete und die bedrückende Angst abnahm. Ich stand auf, schnappte mir mein Fahrrad und klinkte beim ersten Versuch sofort ein.

 

Irgendwann war es dann geschafft, ich hatte die Bergwertung erreicht, und nun kam das Gravel-Stück, auf das ich mich am meisten gefreut habe! Vom Feeling ähnelte es der Strade Bianche und ließ super fahren. Rauf, runter, rauf, runter und hin und wieder den nach und nach immer mehr technischen Defekten am Straßenrand ausweichen. Wegen so einem Stückchen wurde davor so Panik gemacht? Das ich nicht lache! Es machte einfach richtig Spaß und ich genoss, genug Platz zu haben, um meine eigene Linie zu fahren. Trainiert hatte ich unter anderem auf kleinen, flachen Feldwegen und einem MTB-Trail in der Lobau.

In Gedanken verfluchte ich noch einmal denjenigen, der es für eine gute Idee gehalten hatte, eine so steile Straße wie den Montée du plateau des Glières zu bauen, schnappte mir frisches Wasser bei der Labestation und machte mich auf meine 13 Kilometer lange Abfahrt, die von einem weiteren kleinen Berg und einem recht langen, flachen Stück zu den letzten 2 Pässen führte. Das zog sich ordentlich hin! Eigentlich hätte jetzt auch Schluss sein können. Das waren grade schon mehr Höhenmeter, als ich jemals zuvor am Stück zurück gelegt hatte. Verrückt. Das Restaurant da am Straßenrand sieht doch nett aus? So etwas richtiges zu essen wäre jetzt schon mega! Und dann sage ich einfach, ich hab Knieschmerzen oder so und lasse mich einsammeln… Verdammt, ich hatte ja aus Gewichtsgründen mein Geld in der Lodge gelassen. Naja. Dann mach ich halt weiter.

„Allez les filles!“ Die Franzosen sind wirklich Radsport-Verrückt. Nicht nur für die Profis, auch für uns Jedermänner standen sie einen ganzen Tag am Straßenrand und hatten in rauen Mengen Wasserflaschen für uns parat. Auch kleine Säckchen mit Eiswürfeln durften wir uns im Vorbeifahren in den Nacken legen lassen. Und wenn man als Frau vorbei fuhr, jubelten selbst die bereits heiseren noch einmal laut auf! „Allez les filles“ Also: allez! Und ich machte ordentlich Zeitrückstand, der sich durch meine inexistenten Abfahr-Skills eher in Startnummer mit 5, 6 oder 7 zu Beginn ausgebaut hatte, gut. Das gab mir auch noch einmal neue Motivation.

Col de Romme / 9 km und 8,8% Avg.

Bei der vollkommen überfüllten Labestation am Fuße des Col de Romme wurde es richtig heiß: Mein Wahoo zeigte 32 Grad an. Überall lagen Menschen, Räder, Räder über Menschen, Menschen über Räder, die Männer pinkelten irgendwo in die Ecken, wir Mädels entdeckten neben den spärlich bemessenen 3 Dixi-Klos eine richtige Toilette. Mit Klopapier! Und kaltem, fließendem Wasser! Und: Sonnencreme. Die hatte ich nämlich inzwischen komplett ausgeschwitzt und meine Lippen brannten und platzten nach und nach auf. Dann prügelte ich mich mit ein paar Männern um frisches Trinkwasser bei der Labestation und sah dabei aus dem Augenwinkel ein kleines Brötchen mit Schinken und Salami drauf… Ich hatte noch nie während einem Rennen irgendwas „richtiges“ gegessen. Verträgt mein Magen das? Ach, schlimmer als dieser Wasserbauch mit Kohlenhydrat-Mischungen und Riegel-Bröseln drinnen konnte es nicht werden. Also schnappte ich mir schnell noch 2 Mini-Brote, die in diesem Moment besser schmeckten als das Surschnitzel bei der Poidlhütte. Sorry Adrian. Nur vom ISO-Zeug sollten wir unbedingt die Finger lassen, hatte man uns gesagt. Das verträgt sich nämlich gar nicht gut mit den Gels.

Weiter ging’s: Die Mittagssonne wärmte die Felswand neben uns so richtig schön auf. Der Asphalt wirkte eher wie kaum verhärtete Lava. Die Plätze im Schatten waren heiß umkämpft, wenn es überhaupt welche gab. Die Riegel und Gels, die ich sonst so gerne aß, schmeckten mir spätestens ab Nummer 15 nicht mehr „besonders gut“. Das Wasser in meinen Flaschen sorgte auch nicht mehr für Erfrischung, die mit Kohlenhydraten versetzte Mischung in Flasche 2 war aufgrund der Temperatur dermaßen eingedickt und kaum mehr trinkbar. Eine zuckrige Sirup-Masse ist für so einen aufgeblähten Rennfahrer- Bauch echt eine Herausforderung. Und überhaupt, diese bescheuerten Motivations-Schilder: die fand ich gar nicht mehr lustig, bei jedem weiteren fuhr ich allerdings ein bisschen schneller, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Der Col de Romme mit 9 km und 8,8% Steigung im Schnitt forderte Tribut, immer mehr Teilnehmer lagen an den wenigen Schattenplätzen am Straßenrand. Knapp 130 km war ich nun unterwegs, meine bislang längste Ausfahrt und Probleme machten Körperteile, die ich bislang beim Radfahren noch nie gespürt habe: mein Kreuz und meine Arme. Irgendwann war es mir bei der recht knackigen Steigung aufgrund der Schmerzen nicht mehr möglich, zu meiner Trinkflasche zu greifen. Die Hitze und der Wassermangel führten zu Schwindel und ich ließ abreißen und schlängelte mich rechts aus dem Feld. Ich füllte etwas Wasser in die Kohlenhydrat-Mischungs-Flasche und trank diese auf Ex. Tatsächlich konnte ich schon wenige Sekunden später wieder klar denken und mich besser bewegen!

Die letzte Stunde hatte niemand in meiner Nähe ein Wort gesproche. Es ging kein einziges Lüftchen, die Luft war so aufgeladen und heiß, man hätte sie schneiden können. Hin und wieder hörte man, wie sich jemand verschaltet oder ein knarzendes Tretlager – oder ein Husten und Stöhnen.  Die letzten mir bekannten Menschen hatte ich bei der Labestation des 1. Passes gesehen – und so freute es mich umso mehr, als ein sehr großer, bärtiger Mann rechts neben mir meinte “Oh, it’s you again!” Wir sind uns scheinbar auf dem flachen Stück immer wieder begegnet, doch nun fehlten uns beiden einiges an Flüssigkeit und Zucker. Ich gab ihm einen Riegel von meinem Vorrat, zog mir die Kappe unter dem Helm aus und wir beschlossen, die restlichen Kilometer bis zum Gipfel gemeinsam zu fahren. “All I want to do is to finish this goddamn Col as fast as possible.” – das dachte ich mir auch, schließlich war die Hitze und die Stille kaum mehr auszuhalten. Also quatschten wir (oder besser gesagt ich quatschte, er ächzte), bis wir es nach oben geschafft hatten, und ich wünschte ihm vor der Abfahrt noch ein sicheres Rennen.

Unicorn Cycling Team Alpecin Letape du Tour

Col de la Colombière / 7,5 km mit 8,5% Avg.

Plötzlich sah ich zwei rot-blaue Trikots aufblitzen: Markus und Laura aus unserem Team, die ich bisher noch gar nicht auf der Strecke gesehen hatte, düsten auf der Abfahrt an mir vorbei. Ich wollte einfach nur sicher zum letzten Anstieg kommen, behielt mein Tempo bei, auf dem Weg zum Col de la Colombière könnte ich sie ja vielleicht eh noch einmal einholen. Und tatsächlich, so war es auch: ich hatte mir meine Energien gut eingeteilt und konnte noch ordentlich in die Pedale steigen. Während ich bislang von den Wattwerten irgendwo zwischen schlechtem und guten Tag herumpendelte, schaffte ich am letzten Anstieg die Werte für den sehr guten Tag! Auch mein Puls blieb unten. Im Nachhinein erfuhr ich von Daniel: aus Erschöpfung. Egal! Ich freute mich, den letzten Anstieg der Kategorie 1 kurz über meinem GA2-Bereich zu fahren und dennoch ordentlich flott unterwegs zu sein! Ich blieb einfach auf der linken Seite und konnte am Feld vorbei ziehen, hier war auch mehr als genug Platz, ich fühlte mich sicher und gut. Wenn ich eine Lücke fand, ordnete ich mich ein, um noch ein bisschen Energie zu sparen. Ich musste einfach die ganze Zeit grinsen: bald, ganz bald, war es geschafft!

Unicorn Cycling Team Alpecin Letape du Tour

Abfahren… Juhu…. Man sieht mir meine Begeisterung an!

Nun ging es in die 15 km lange Abfahrt in den Zielort Le Grand Bornard – ich dachte mir nur: Nicht sterben. Nicht sterben. Nicht sterben.  Ich weiß, die meisten, die diesen Artikel lesen werden, schlecken sich nach einer solchen Abfahrt auf gesperrten Straßen die Finger ab. Auch Laura und Markus schossen wieder an mir vorbei. Ganz im Gegenteil zu mir; am liebsten wäre es mir gewesen, wenn mich nach den Anstiegen jeweils ein Auto abgeholt hätte. Hätte hätte Fahrradkette… Ich sah das Orts-Schild des Ziels in Le Grand-Bornand. Und grinste wieder.

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Zieleinfahrt in Le Grand-Bornand

Das harte Training der letzten Monate war es wert gewesen. Ich ging noch einmal in den Wiegetritt für den Ziel-Sprint und rollte nach 9:08 Minuten Netto-Fahrzeit und 10:42 mit Pausen ins Ziel! Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich konnte gar nicht anders! Aber musste dabei lachen, ich sah unseren Kamera-Mann, der mir auf den letzten zwei Pässen beinahe auf die Nerven gegangen war (Sorry! Du hast ja nur deinen Job gemacht, ich weiß! 😉 ), aber mich auch noch mal ordentlich angefeuert hatte, dass ich bei weitem nicht die letzte vom Team wäre! Mit der Medaille um den Hals setzte dann auch die Erleichterung ein. Ich hatte es geschafft! Eine echte Berg-Etappe der Tour de France! 169 km mit 4000 Höhenmetern (laut Wahoo „nur“ 3900?) nach nicht mal einem Jahr Rennrad-Fahren. Hättest du mir letzten Juli gesagt, ich würde Rennen fahren, lange Rennen, extreme Rennen, hätte ich dir den Vogel gezeigt. Idiot. Wer macht sowas? Tja, ich habe es gemacht. Laura war kurz vor mir ins Ziel gekommen, wir plünderten das Buffet mit kaltem Wasser und unfassbar gutem, französischen Käse und machten uns auf den Weg zum Alpecin-Wagen.

Ein fantastischer Tag auf dem Rad ging zu Ende und die Gefühle der letzten Stunden überrollten mich. Vor allem war ich aber eins: Verdammt stolz! Beim Abschluss-Grillen am Abend bekamen wir alle ein gelbes Trikot. Wir haben zwar nicht das Rennen gewonnen, aber jeder von uns konnte heute einen kleinen Sieg über sich selbst einfahren – ob Arne, Laura oder ich als Rennrad-Rookies oder Franky und Stefano, die beide die selbe Zeit gefahren sind und es damit in die Top-1000 geschafft haben!

Strava: Hier

Platzierungen:
Insgesamt 10402/12209
Frauen gesamt: 478/keine Ahnung
Altersklasse: 141/195
Auf den Anstiegen war ich eher im hinteren Drittel – bis auf den letzten, den Col de la Colombière, da konnte ich im Mittelfeld gut mithalten.

Aber ganz ehrlich: die Platzierung ist doch nach so einer Challenge wurscht, zumindest mir.

 

 

Photos: Sportograf // Daniel – RoadBIKE // Bengt Stiller Photography // Meine, beim Fahren aus Sicherheitsgründen mit der HTC RE gemacht